"The World of Marble" - Interview mit Fabio Viale (© Deutsche Welle, Mit freundlicher Genehmigung der DW)
Der große Renaissance-Künstler Michelangelo glaubte, dass ein Kunstwerk bereits in einem Marmorblock "lebt". Um also die Skulptur zu enthüllen, musste man nur den Überschuss entfernen. Schon in der Kunsthochschule hat sich der piemontesische Bildhauer Fabio Viale diese Vision zu eigen gemacht. "Ich erkannte, dass ich im Gegensatz zu meinen Mitschülern eine besondere Gabe hatte. Ich konnte sehen, wie die Form aus dem Marmorblock entsteht, und das ist etwas, das man nicht lernen kann", erzählt der Künstler.
Diese Gabe war die treibende Kraft, die ihn dazu brachte, seine bildhauerische Technik an der Akademie der Schönen Künste und anschließend in Carrara, der "Heimat" des wertvollen Steins, zu verfeinern. Während seiner Ausbildung experimentierte er mit verschiedenen Formen, Volumina und Bildern. Dieser Prozess brachte ihn schließlich dazu, das eigentliche Wesen dieser Kunst zu erforschen, wie eines seiner berühmtesten und symbolträchtigsten Werke "Souvenir Gioconda" (oder "Mona Lisa Souvenir") deutlich demonstriert. "Ich wollte dieses berühmte Gemälde von Leonardo da Vinci in eine Skulptur verwandeln", erklärt Viale, "also begann ich mit der Arbeit an einem 3D-Modell. Trotz meiner größten Bemühungen, es so realistisch wie möglich zu gestalten, fehlte immer etwas. Ich konnte den leicht verschwommenen Effekt der Gesichtskontur der Mona Lisa nicht erzeugen. Als ich die Marmorarbeit fertiggestellt hatte, beschloss ich, ihr mit einem Hammer auf die Nase zu schlagen, weil ich den Anblick einfach nicht mehr ertragen konnte. Paradoxerweise erwies sich das als eine befreiende Aktion. Ohne ihre Nase wirkte die Mona Lisa realistischer."
Aber das war noch nicht alles: Über diesen instinktiven, kathartischen Akt hinaus, musste Viale eine Textur finden, die das Werk "körnig" macht und damit die verschwommene Optik erzeugt. "Ich fand die Lösung in einem Styropor®-Effekt, der eine echte Metamorphose darstellte", erklärt er. "Diese Technik ließ das Objekt verschwimmen und verwandelte es in etwas anderes, etwas Einzigartiges, das gleichzeitig auch unglaublich verlockend war." Der Effekt wurde so zu einer Art Köder, zu einer Täuschung, mit der der Künstler den Betrachter in seinen Bann zieht. Die gut gemeinte Täuschung dahinter ist eine außergewöhnliche Arbeit. Um mit dieser Technik eine 10 Zentimeter große Skulptur zu schaffen, bedarf es etwa einer Stunde intensiver, präziser Arbeit. Der endgültige Effekt sei so realistisch, erklärt Viale, "wenn man den Leuten sagt, dass die Skulptur eigentlich nicht aus Styropor®, sondern aus Marmor besteht, berühren sie sie instinktiv, um zu sehen, ob es stimmt. Es ist überwältigend, weil alle anderen Sinne sagen, dass es unmöglich ist."
Aber welche Botschaft will der Künstler mit dieser und all den anderen Techniken vermitteln, die er im Laufe seiner Karriere eingesetzt hat - etwa das "Tätowieren" von Kopien klassischer Statuen? "In Wahrheit schaffe ich keine Skulpturen, um Botschaften zu senden", antwortet Viale. "Meine Werke haben ihre eigene Autonomie und ich bin mehr daran interessiert, was passiert, während ich sie erschaffe. Ich muss nur teilweise die Kontrolle über das Werk haben, denn ein Teil der Skulptur muss sich von selbst entwickeln. Ich bin daran interessiert, zwei gegensätzliche Welten zu schaffen, die interagieren und Energie freisetzen. In meiner Arbeit suche ich eine solche Spannung."
Diese Spannung ist für Viale entscheidend, um ikonische, höchst suggestive Skulpturen zu erschaffen. Ist er jemals an einem seiner Werke hängen geblieben? "Nein, ganz und gar nicht! Denn wenn ich mich an ein Werk binden und es für mich behalten würde, könnte ich keine weiteren erschaffen. Wenn ich also sehe, wie sie mein Atelier verlassen, bin ich immer glücklich und denke mir, dass meine nächste Skulptur noch besser sein wird."